Eine phantastische Kurzgeschichte von Christian Lord

Unserem Exclusivreporter Harry Ingelmann gelang unter Lebensgefahr ein Einblick in eine Welt, die uns völlig unbekannt ist, obgleich sie unser aller Schicksal bestimmt. Eine Welt der Macht und der Gier, die uns geradezu absurd erscheinen mag in ihrer Universalität und erschreckt in ihrer Abschottung;
Es ist der Club der Philatelisten, das machtvollsten Geheimbundes der Erde, der sich alljährlich im lichtensteinischen Vaduz trifft:

Auf nebelumschwadeten, zerklüfteten Felsen finden sich die Akteure in einemneoklassizischtisch-rustikalen kleinem Schlosslokal ein, das alsbald vom Zigarettenrauch der Anwesenden innen noch vernebelter ist.
Überall nehmen alte, beleibte Herren platz und stellen ihre Koffer und Taschen beiseite
und nehmen ihre ledernen, goldgeprägten Alben, die sie vor sich stapeln. Einer der ihren blättert jedes Album jedes „Sammlers“ aufmerksam durch.
Am Ende dieses Vorgangs ruft er aus; „Mini Härre, die Sammligge sind chomplätt!“.
Das bedeutet, dass alle kauf- und verkaufbaren Objekte, die es auf der Welt gibt, durch die hier dargebotenen Briefmarkensammlungen repräsentiert sind.
Das Tauschen beginnt vorsichtig, abtastend; „Grüninger, dörf I amol inneluege?“. Zunächst möchte keiner Interesse an den Schätzen des anderen zeigen, doch nach und nach bricht das Eis und die wortkargen Senioren werden lebendig. Für mich ist das immer aktivere Treiben rätselhaft, ich schnappe nur einige Wortfetzen auf.
Es scheint Motivsammlungen, wie zum Beispiel Fußballmotive, die für Übertragungsrechte, Stadien, Mannschaften stehen, Ländersammlungen, die ganze Volkswirtschaften beinhalten oder Raritäten wie Bildarchive oder Golfressorts.
Die sonst ermatteten Augen der Teilnehmer glänzem, ja strahlen jetzt! Die Luft ist
zum zerreissen gespannt. Ich spüre jetzt instinktiv die unfassbaren Energien, die die Sammlungen ausstrahlen. Es macht mir Angst, mir ist schlecht, ich habe Schweißausbrüche und werde fast ohnmächtig. Die Philatelisten sind nun in ihrem Element. „Argentiniä; chomplätt!“, „Haiti, gstämplet und Unicef, Südafrikcha?“ „Guet!“. Die Anwesenden vollziehen ihre Transaktionen wie in einem tranceartig befolgtem, uralten Ritual.
Nach welchen Regeln oder Gesetzen der Tausch verläuft ist für mich absolut nicht nachvollziehbar, nirgends liegt ein Katalog, keiner notiert etwas, es werden nicht einmal Zahlen genannt. Hat hier jeder eigene Kriterien? Kennen sie die Beteiligten so gut, dass
sie keiner Erwähnung mehr bedürfen? Oder sind diese „Philatelisten“ einfach vollkommen verrückt? Mich durchzuckt der Gedanke: Selbst wenn diese Herren verrückt wären, hätte das zur Folge, dass die Masse der Normalen sich dem angleichen müsste, wollten sie noch irgend etwas besitzen…Ich erschrecke!…Habe ich das jetzt etwa ausgesprochen? Kann man mir den Gedanken ansehen?…Erleichtert stelle ich fest, dass mich keiner beachtet.

Eine Kellnerin betritt den Raum und bringt Getränke. Als sie alle verteilt hat sagt sie; „Meine Herren, ich muss jetze abrechnen!“. Zunächst reagiert niemand, doch dann legt der alte Mann, der die Veranstaltung eröffnet hat einen Scheck auf das Tablett der Kellnerin. Sie bleibt jedoch stehen. Bewegungslos wie eine Skulptur aus Granit. Stille…
Sie will offenbar Trinkgeld! Mein Gott, hat diese Frau denn keine Ahnung, was das hier für eine Gesellschaft ist? Männer gehen instinktiv keine Machtprobe ein, die sie nur verlieren können, aber Frauen fordern sie ab und zu geradezu heraus, wie hier. Seit über einer Minute steht sie da! Mir stockt der Atem.

Als offensichtlich wird, dass sie fest dazu entschlossen ist über Nacht stehend auf Trinkgeldzu warten, beginnt der Alte seinem Sitznachbarn etwas ins Ohr zu flüstern, woraufhin dieser in seine Hosentaschen greift, nichts findet und wiederum seinen Sitznachbarn anspricht, der den Kopf schüttelt. Fortlaufend verbreitet sich ein Geflüstere und Gesuchenach Trinkgeld bis alle Anwesenden ausdauernd und erfolglos ihre Taschen durchwühlt haben. Die Bedienung wirkt inzwischen doch irritiert, ihr Tablett hat sie sinken lassen, da sagt der ihr zugewandte Briefmarkensammler, so, wie er es selbst kaum glauben könnte und er es jetzt zum ersten Mal selbst bemerken würde:

„Madam, ich muess sie enttüsche!…Offebar sind mir…“er gluckste, „sind mir alli“, gluckste erneut, und schon jetzt zeichnete sich ab, dass er das Satzende niemals erreichen würde;„Offebar sind mir alli mitenand…“. Sein Gekicher drückte unaufhaltsam wie flüssigesMagma kurz vor einem Vulkanausbruch nach oben, bis es einem halb geschriehenem,
halb geweintem „…blankch!“ aus ihm heraus brach. Mit einem Schlag fingen die Herren
an zu brüllen! Sie trommelten auf die Tische, die Konzentration von Stunden entlud sich
in diesem Moment, wie ein Wolkenbruch nach schwülen Tagen. Manche nässten ihre Hosen ein, einer trommelte auf den Fußboden vor Lachen, woraufhin sich die Kellnerin, vermutlich weinend abwandte. Es folgte ihr jedoch ein kleiner Mann mit einer Briefmarke, die er hoch erhoben mit einer Pinzette hielt. Er kehrte ohne die Marke wieder zurück in die johlende Runde.

Durch einen Türspalt in die Küche konnte ich beobachten, wie die Kellnerin die Briefmarke wütend in den Mülleimer warf. Sie weinte immerhin nicht mehr und ging.
Das Lachen wurde nach Minuten endlich von einem allgemeinen Ringen nach Luft abgelöst, bis einer der Sammler wieder „blankch!“ rufen konnte, was erneut Gebrüll auslöste. Dieses Wort schien hier ein Witz ohne jegliche Abnutzungserscheinung zu sein. Ich wollte jetzt unbedingt gehen, es wurde eh‘ nicht mehr getauscht, nur noch gelacht. Zum Abschied schien mir einer der Lachenden zu winken, aber vielleicht konnte er auch nur vor Lachen seinen Arm nicht ruhig halten. Ich ging durch die Küche hinaus, nicht ohne die zerknüllteBriefmarke aus dem Mülleimer zu fischen; Sie war rot mit 2 orangenen Diagonalen, obenrechts 10, unten „Marshall Islands“, links winzig gedruckt „Jitiki“.

Nach hartnäckigstem Bitten und Forden ließ mich meine Redaktion schlussendlich auf

die Marshall Inselgruppe fliegen. Ich suchte die Maklerbüros nach „Jitiki“ ab. Sobald ichdavon hörte, legte ich die Briemarke aus dem Mülleimer wie ein Ausweisdokument vor; „ Ah, Mister Ingelmann, we have been waiting for you! Your Island Jitiki is 48.336797N,12.008219E…here are the documents!“. Ich unterschrieb.

Als ich schon gehen wollte, drehte ich mich noch einmal um und fragte den Makler;
„Let me ask you a final question,….this little stamp here…“ Ich hielt ihm noch einmalmeine Briefmarke vor die Nase, „what would happen, if I would have destroyed it?“. Der Makler grübelte lange…“If I would be informed about that, well, then I would be obliged to let this island…vanish…with this island it is still possible, but…“ hier stoppte er, wohl weil ihm schlagartig bewusst wurde, dass er so etwas nicht sagen darf. Er lief rot an. Und setzte hinzu, um das Gesagte abzuschwächen „but this would never happen in reality.“

Er versuchte beschwichtigend zu lachen. Im Gehen dachte ich noch lange „Nein. In Wirklichkeit würde das wohl niemand machen.“